Montag, 25. Juni 2012



Zwölftens - Krishna in Vrindāvana -

das Göttliche der Liebe






Eine bunte Pfauenfeder, wie Krishna sie
an seiner Stirn trägt


Ein leichtes Knacken und Knistern ist unter meinen Füßen, sehr leise ist es sonst hier im Wald — nein ich nenne es richtiger ein dürres Gehölz. Ja, Bäume stehen hier, aber die meisten sind trocken, leere graue Stämme, es gibt fast kein trockenes Laub, nicht einmal Unterholz, keine Kräuter, Gräser, keine Moose oder Flechten auf den Rinden.


Woher aber kam denn das Knacken und Knirschen? Der ganze Waldboden liegt voll mit Plastik-Tüten und -Folien. Sie sind auch ausgetrocknet, obwohl in vielen noch Reste sind, Essen vielleicht. Ein paar Ameisen laufen da rein und raus – mehr Leben ist hier nicht.


Als ich hier vor 30 Jahren vorbeikam sagte mir ein Einheimischer, „dieses ist Shri Krishna´s Dschungel, hier hat er mit den Tieren gespielt. Doch nun  ist nicht mehr viel da.“ Doch ein paar Minuten später kreuzte ein Rudel großer Antilopen die Straße, „die habe ich noch nie hier gesehen. Vielleicht sind sie gekommen, weil du hier bist, kann das wohl sein?“


Damals hatte dieser Wald noch was Lebendiges, in der Regenzeit grünte es. Selbst ein paar Vögel haben gesungen. „Vor 5ooo Jahren lebte Sri Krishna hier, da war es ein Dschungel,“ sagt mein Begleiter, der sich in den Hindu-Geschichten auskennt. „Sri Krischna war doch der König der Kuhhirten, der Gopas und Gopis. Alles muß sehr grün gewesen sein, grün und feucht, und kleine Blutegel krochen im Gras und suchten nach aussaugbarer Beute – Mensch oder Tier.“


Traurig war er, Gopinathan war sein Name, traurig, weil er seinem geliebten Krishna nicht selbst begegnet ist, weil sogar der Dschungel von damals fehlte. Wenn er vorausgesehen hätte, wie es dreißig Jahre später sein würde . . . Genau genommen – mit den kritischen Augen der Ökologen gesehen – ist hier jetzt Steppe mit ein paar Baumleichen. In der Nähe fährt nun eine Regionalbahn, die Delhi mit den umgebenden Städten verbindet, sie rattelt und knirscht, es soll schon einige Unfälle gegeben haben: ganze Züge sind einfach umgefallen. Auf den kleinen Bahnhöfen können die Gäste sich ausruhen und etwas essen oder trinken – doch von den berühmten Samozas der früheren Jahre finde ich nichts mehr. Nur fast food mit leicht indischem touch.


Viele Menschen leben auf den Bahnhöfen, zwischen den seltener benutzten Nebengleisen. Die, denen es etwas besser geht, schlafen nachts unter einem Vordach der Halle. Doch innen wacht eine private Bahnpolizei in schwarzen Anzügen, bewaffnet mit Schlagstöcken und auch mit Pistolen.


Ich fragte einige, wo sie eigentlich herkämen, was ihr Beruf, ihre Kaste, ihre Religionszugehörigkeit sei. Hier auf den Bahnhöfen bekomme ich selten eine Antwort außer bösem Gegrummel — an anderen Stellen in diesem Land sind das gängige Fragen zum Beginn eines Gespräches. Einige, die ich anspreche, sind aber Bauern und haben ihr Land verloren — es ist zu Wüste geworden, oder die Regierung hat einen Staudamm oder eine Autobahn gebaut durch den Ort und über die Äcker ihres früheren Lebens. Oder ein großer Industriekonzern hat das Gebiet ihres Volkes einfach aufgegraben und Bodenschätze entnommen — alles ohne sich um die ehemaligen Bewohner zu kümmern, die nun auf der Straße bettelnd umherziehen. Glücklich, wer am Autobahnbau mit arbeiten darf für etwas Geld für die Ernährung der Kinder, glücklich, wer für die Nächte eine Eisenbahn-Anlage findet oder einen Busbahnhof. Die Höfe in dieser Gegend sind überfüllt von den Umherziehenden, von den Heimatlosen, den Armen, Kranken, Bettlern — doch was gibt es denn zu betteln, wer hat was?


Wie gesagt, es war mal anders, ganz anders. Lange vor meinem jetzigen Leben. Früher? In einem früheren Leben? Gab es das mal? Ich versuche, mich zu erinnern. In jenem vertrockneten Dschungel finde ich ein weniger knistriges Plätzchen, wo ich mich hinhocke, unter einen der letzten grünen Büsche, etwas Schatten! Es ist nun so still, daß aus meinen Gedanken-Tiefen Bilder auftauchen, ja, und Laute, erst leise, dann etwas lauter werdend. Erinnerungen, eine alte Reise durch dieses Land Bharat, wie sie Indien damals nannten.




Die Sonne zeigt´s mir, senkrecht strahlt sie von oben – Sommer, Mittag – eigentlich sollte ich einen Schatten suchen und warten bis sie sich etwas zur Seite geneigt hat, horizontwärts. Es treibt mich aber, die nächste Stadt zu erreichen, Vrindāvana. Ich gehe weiter. Meine heißesten Tage hier . . .

Ich versuche, schnell zu gehen, aber so viel Schweiß . . . Da liegt ein großes Blatt, verdorrt aber noch ganz. Ich lege es mir auf den Kopf, na ja, etwas Schatten . . . Hier ist es wirklich heiß, in Uttar Pradesh im Norden Bharat´s. Wie alle hier habe ich mir ein langes, kariertes Tuch um die Hüften gewickelt, dessen verlängertes Ende über meinen Oberkörper hängt. Wenigstens kein Sonnenbrand. Mehr Kleidung wäre tödlich, denke ich.

Vrindāvana - Krishna, Radha, die Gottheiten, die die Menschen hier lieben. Bhakti, die Liebe zu Gott, zu Krishna. Gehe ich tiefer: Liebe zu Vishnu, der weit entfernte und fremde Gott, doch – eben – Gott!

Das Land ist flach, nur am Horizont ein paar Hügel im Mittagsdunst. Die Erde ist trocken und braun und staubig. Ab und zu steht da ein Baum, einige Geier sitzen faul auf der Erde. Einer schüttelt rasselnd sein Gefieder und hüllt sich in eine Staubwolke. Sonst nichts, trockene Äcker. Trockenzeit. Die Straße ist noch staubiger, sie besteht aus zermahlenem Staub – doch wer zermahlt sie? Ich sehe keine Reisenden, keine Ochsenkarren. Die Straße ist leer, obwohl der Hauptweg von Mathura nach Vrindāvana. Ja, es ist Mittag und brennend heiß. Da geht niemand freiwillig auf die Straße – außer vielleicht ein närrischer Pilger aus dem fernen Westen, wie ich. Mir scheint, ich müsste nur ein paar trockene Blätter zsammenlegen, und die Sonne würde sie entzünden. Es ist so heiß, daß sich die Eidechsen in die Schatten der Lagerfeuer flüchten würden, nur weg von der Sonne – habe ich mal gehört.

Der Weg führt durch einen Wald, ich denke an Schatten. Doch ich will ja heute noch in Vrindāvana ankommen. Grüne Bäume, grüne Blätter, Kräuter, Moos wo es feucht ist, Flechten an den Baumrinden. Ein paar bunte Vögelchen und Schmetterlinge, Blumen liefern ihnen Nahrung, scheint es.


 Die Nilgai

Da: aus dem Wald kommt eine Gruppe von Tieren, groß wie Pferde, die erwachsenen Bullen mit kleinen Hörnern, ganz gemächlich, sehen umher und queren die Straße. Ich mag nicht näher gehen um sie nicht zu ängstigen, doch sie bleiben stehen und sehen zu mir, als ob sie mich erwarten. Ich gehe sanft näher, und sie beschnuppern mich und lecken ein wenig an mir, an meinem Gesicht, das ist ihre Art zu Streicheln. Ich streichele mit den Händen zurück und erfreue mich an dem weichen Fell. Streichele die Nasen und Hälse und Flanken, die Stellen, an denen sie einander auch streicheln, lecken. Sie werden Nilgai genannt, es heißt, daß Krishna sie geliebt habe und zeitweise mit ihnen lebte. Und mir wurde später gesagt, daß ihr Erscheinen eine große Gnade gewesen sei. Vielleicht eine zustimmende Botschaft von Krishna. Eine Einladung.

Ja, Krishna, der Gott dieser Leute, der Hirten-Gott liebte alle Tiere, und die Tiere lieben ihn, und wenn ein Mensch kommt, so allein wie ich, dann mögen sie denken, da kommt ihr Gott, der Krishna. Und wenn es zwei Menschen sind, denken sie vielleicht, da kommt Radha mit, die Geliebte von Krishna. Und sie kommen heran und begrüßen sie. - Wir bleiben eine Weile zusammen, doch wie ein paar Kamele mit ihren Bauern kommen, ziehen sie sich langsam in den Wald zurück, das wäre ihnen zu viel, denke ich.

Nirgendwo im Land habe ich Tiere so vertraut gesehen wie diese Nilgai – ein Erbe von Krishna´s Wirken. Die Kamele gehen weiter. Da kommt allein eine Frau in weiten, blauen Tüchern, trägt einen kleinen Korb auf dem Kopf, sie sagt zu mir „Hare Krishna!“ und ich grüße ebenso zurück. Wir gehen zusammen weiter. Sie geht hinter mir, so ist es die Sitte hier, der Mann beschützt die Frau indem er den Weg frei hält, Gefahren aus dem Weg räumt. Doch die Liebe bleibt groß.

In der Ferne sehen wir die Kuppeln von Vrindvāvana, Tempel-Kuppeln. Und Türme: Eine Gruppe von Menschen in orange Gewändern kommt entgegen, trotz der Hitze tanzen sie fröhlich und singen, „Hare Krishna, Krishna, Krishna ...“ Die Frau hinter mir singt mit und geht nun neben mir, eilt in fliegenden Tüchern voraus und fällt einem großen, besonders schönen Mann in der Gruppe zu Füßen und küsst den Saum seines gold-gelben Gewandes. Und streicht den Staub von seinen Füßen. Sie kommt zurück, „Chaitanya, Chaitanya ist das,“ sagt sie in Begeisterung, „Chaitanya, der Bote Krishna´s“.


Chaitanya ist sehr hellhäutig, ungewöhnlich hier in diesem Land. Er ist geschmückt mit Girlanden von Blumen. Die Girlanden duften, auch bis zu mir in einiger Entfernung. Chaitanya singt, und die anderen begleiten ihn durch Summen oder Refrains. Dabei tanzen sie immer fröhlich und heben ihre Hände, „Krishna, Krishna, Hare . . .“ sind ihre gesungenen Worte.

Unter einem Baum, der die Straße überschattet, bleiben sie stehen. Aus dem Baum fallen rote Blütenblätter auf den Mann und die ganze Gruppe. Ein Koel-Kuckuck ruft seine Melodie zum Gruß. Und wie er sich schüttelt, fallen noch mehr Blätter. Ein Maina-Vogel ruft „Hare Krishna, Krishna“.

Sie nehmen mich in ihren Kreis und kehren um nach Vrindāvana. Die ganze Zeit singen sie ihr Mantra, „Hare Krishna, Hare Rama“. Diese Menschen strömen trotz der Hitze einen wunderbaren Duft aus, Sandel weiß ich. Sie tragen in mit Stoff umwickelten Flaschen kühle Obstsäfte, von denen sie mir im gläsernen Becher einschenken.

„Die Nilgai, die dir begegnet sind, sie sind die Nachfahren der Nilgai, die um Krishna lebten als Er hier wandelte. Es ist ein großes Wunder, wie sie dich begrüßt haben, wo du ihnen doch fremd sein mußt – Reisender von weit her. Das ist ein Zeichen, daß du hier willkommen bist. Und so nehmen wir dich in unsere Mitte, und du begleitest uns zu unserem Tempel.“

Chaitanya nimmt mich in seine Arme und tanzt mit mir – „zu Ehren von Krishna, ich sehe, du bist ein Bhakta, ein Liebhaber Krishnas,“ singt er.

Nun stehen am Wege einige Schreine, so hoch wie ein Mensch, und in den Schreinen stehen kleine, bunte Figuren, „die Gopis, die Hirten, und ihre Kuhherden“ sagt jemand. An jedem Schrein machen wir eine Pause und singen ein Lied zu Ehren der Frauen und Männer, der Hirten, der Gopis, die seinerzeit Krishna´s Leben begleiteten. Im letzten hängt ein Bild, das ich euch hier zeige, wie es jemand für diesen Bericht abgemalt hat.


 Krishna und Radha

Ihr seht, wie Krishna mit Seiner liebsten Gopi Radha unter einem blühenden Baum sitzt. Die Haut von Krishna ist blau, und Er trägt nur ein gold-gelbes Tuch um die Hüften. Auf Seinem Kopf ein goldener Turban, darin steckt eine Pfauenfeder. Radha sieht verehrend zu Ihm auf. Einem gewöhnlichen Menschen ist es vergönnt, sich der Gottheit so intim zu nähern – da ist gewiß Verehrung.

Radha ist in blaue Kleider gehüllt – ist Blau die Farbe der Gottesverehrung?

Chaitanya wendet sich wieder um und hakt ein Mädchen und einen Knaben ein, tanzt mit ihnen weiter die Straße entlang. Verliebt schauen sie hinauf in sein schönes Gesicht. Wirklich, ich habe nie einem so schönen Menschen in die Augen gesehen. Schwarze Augen in hellbraunem Gesicht, lange schwarze Haare wehen – im tanzenden Gang die Straßen entlang, geschmückt mit einer Pfauenfeder über der Stirn. Chaitanya´s Gesicht ist glatt wie das eines Jünglings, ein dunkler Flaum auf der Oberlippe, es ist kaum  zu sehen, ob ich nicht einer Frau in die Augen sehe, doch die Haltung, der kräftige Gang, seine singend-tiefe Stimme, zeigen mir, hier ist ein Mann von großer Schönheit. Ich möchte ihn malen können, doch das ginge weit über mein Können.

Die Frau, der ich schon vorher begegnet war, kommt wieder zu mir und sieht nun in meine Augen, „du hast ja blaue Augen, habe ich noch nie gesehen, wie wundervoll! Und wie selten.“ Anita hat dunkle Haut, ihr Gesicht glänzt in dunkler Bräune. Mit den Händen umfasst sie mein Gesicht – und nach langem Zögern und Spüren küsst sie mich mit ihren braunen Lippen, erst auf die Wangen, dann auf meine Lippen – „oh, und deine Lippen sind ja rosa!“ –, dann auf meine Augen. Anita´s Augen sind gelblich, auch selten, mit einem schmalen, dunklen Ring um das Gelb. Sie glänzen als ob Tränen geflossen sind. Ihre Lippen sind etwas dunkler als die Haut.

Unsere Lippen bleiben aufeinander, wie die anderen herankommen und uns freudig ansehen – „Gott Krishna hat euch gesegnet – ein so schöner Kuss, ein so schönes Paar dieser Augenblicke!“ Für kurze Momente mache ich meine Augen auf und sehe den Schwarm um uns, und sehe voller Liebe in Anita´s Bernstein-Augen. Nach wenigen Küssen, und nach wenigem zustimmendem Summen der anderen lasse ich mich so tief hineinsinken in die Liebe . . . versinke in eine Tiefe, in der keine Empfindungen mehr sind, auch keine Dunkelheit, kein Licht, einfach ohne irgend etwas wie Licht. Ist das Gott? Ist das Shiva, der Herr über alles, auch über meine Gefühle, auch über das Ganze meiner Liebe? Herr über meinen Körper, in dem ich nun nur noch das Eine fühle.

Anita ist die Botin des Gottes, die Botin des Gottes, den sie Vishnu nennen, und der uns als Krishna erschienen ist, und ich (als Mann) bin immer wieder angezogen von dieser Mensch-Form, die sich äußert als die weibliche Form. Die schönste Form des Mensch-Seins. Verliere mich in  dieses Weibliche. Ich sehe es in jeder Frau, jedem Kind, auch in den Pfauen neben der Straße, ja in den großen Augen der Kamele mit ihren sensiblen Wimpern.

Liebe, Liebe, das ist so viel, das ist die ganze Göttlichkeit. Chaitanya spricht dazu,
„Krishna sagt, selbst wenn ich mit den süßesten
Engelzungen reden würde,
und bestünde nicht aus lauter Liebe,
wäre ich nichts als eine Glocke aus tönendem Erz
oder eine leer klingende Schelle.
Und sogar wenn ich alle Geheimnisse und
alle Erkenntnis wüsste, selbst wenn ich Berge versetzen könnte,
und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.
Ich dein Gott, den ihr Krishna nennt,
bin die Liebe und sonst nichts.“


Ich kenne dieses aus meiner Kindheit, zuhause hatte das unser Priester zitiert, er hat seinen Christus zitiert. Seinen Meister. Und nun sehe ich die Ähnlichkeit der Namen Christus und Krishna. Hier ist das göttliche Geheimnis. Für alle göttlichen Menschen ist Liebe die Allheit des Lebens. Wir Menschen sind Ausdruck der Liebe, sind die höchsten Geschöpfe der Gottheiten. Denn wir kennen die Liebe.
 
auf die Rückwand eines Schreins hatte vor langer Zeit
ein Bhakta dieses gemalt

Hier für dieses Land Bharat ist Vrindāvana der Platz, an dem sich die göttliche Liebe am dichtesten manifestiert hat. Hier sammeln sich die Wesen, die nach Liebe dürsten – so wie in Jerusalem die Liebes-durstigen des Westens.



Wir erreichen den Ashram dieser Krishna-Bhaktas, der Krishna-Geliebten, ein offenes Tor, umrandet mit bunten Frescen aus Blumen und Tieren, und oben als Schlußstein die Pfauenfeder. Aus dem Ashram, vom Altar höre ich das Singen der Mantras – „Hare Krishna, Hare Rama ...“. In Weiß gehüllte Priester bringen Prasadam – eine Ofpfergabe an die Gottheit – dar, und wie das Ritual beendet ist, bekommt jeder von uns ein klein wenig in ein Blatt gewickelt. „Eine Gabe Vishnu´s an dich.“ Tief dankbar nehme ich die Gabe an. Feierlich von beiden Händen umfasst, und setze mich damit unter einen Baum. Hier sind schon andere Bhaktas, führen die ins Blatt eingewickelte Gabe an die Stirn, an den Mund, an die Brust, dankbar sich selbst segnend mit der Gottesgabe. Mit der Gottes-Liebe, die sie Bhakti nennen.

Hier ist das Bild
vom Prasadam, der Opfergabe an den Gott der Liebe,
es war in zwei Blätter eingewickelt,
 doch nun liegt es auf den geöffneten Blättern
 auf dem Marmor-Boden vor Anita.

 Ihr seht eine köstlich gewürzte Süßpeise,
die wir genüßlich im Mund zergehen lassen.


Anita kommt mit einer gleichen Prasadam-Gabe und setzt sich mir gegenüber. Wir verbeugen uns voreinander, und sie gibt mir ihr Päckchen, ich gebe ihr meines. So tauschen wir diese Zeichen der Liebe. Andere Bhaktas scharen sich um uns und legen ihre Hände auf unsere Körper. Anita legt sich auf die Erde und zieht mich mit. Wir liegen dicht nebeneinander, und alle Hände liegen auf uns und in der Nähe.

Im Ashram wird nun musiziert, ein Saiten-Instrument, „die Vina“ sagt Anita. Später kommt eine Frau, die ihre Vina mitbringt und uns zeigt, alle dürfen sie mal berühren. „Sie ist mein Liebling,“ sagt die Spielerin, „ich liebe sie wie nichts anderes – natülich Krishna geht allen vor, er gibt mir die Musikalität. Doch sonst, mehr noch als mein Kind.“


Eine Vina-Spielerin - hinten ein Tempel von Khajuraho

Jemand bringt Süßigkeiten, ich nehme zwei Stücke und berühre damit Anita´s braune Lippen. Schließlich öffnet sie ihre Lippen und fasst das Stück vorsichtig und leckt daran. „Außer deinen rosa Lippen liebe ich dieses Halva, hm.“ Ein halbwüchsiger Knabe kommt und streichelt Anita´s Wangen und summt hell dazu, „er ist mein junger Liebling, er bekommt das zweite Stück Halva,“ und sie legt es ihm auf seine Lippen, das Spiel geht weiter. Anita nimmt meine linke Hand und legt sie auf die Kehle des Knaben, „fühle mal, wie du mal warst, auch so zart, oder? Eine so kleine Kehle, ja?“ sagt sie. Und es beginnt der Knabe wieder zu summen und zusammen mit der Vina ein kleines Lied zu singen. Meine Liebe wird auf eine neue Weise berührt, „ist das auch eine Gabe von Krishna?“ frage ich.

„Alles ist eine Gabe Krishna´s. – Für unsere Liebe schuf Krishna erst die Knaben, dann die Männer. Alles zur rechten Zeit.“

Die helle Stimme erinnert mich an meine Jugend: Erst als ich wirklich groß war, wechselte meine Stimme und der Bart kam, und mein Körper wurde breit und stark. Bis dahin hatte ich viel gesungen, hell gesungen, ich erinnere mich, und für die anderen Leute war das etwas Schönes – aber dann? Und die Mädchen hatten mir meine weichen Wangen gestreichelt und haben mir gezeigt, daß ich das genießen kann, doch später war es nicht mehr so.



Und nun erlebe ich hier einen Knaben, der ähnlich ist, das holt mir meine Jugend in die Erinnerung zurück. Ich liebe die hellen Stimmen der Kinder und Jünglinge, weil mich das an meine eigenen schönen Jugendzeiten erinnert, doch meine ist nun so tief, daß es mir ein wenig peinlich ist. In meinen Jahren während der Schulzeit und Ausbildung, bis ich wirklich groß und Mann war, lebte ich ein Knabenleben eigener Art. Ich hatte keine Zukunftsziele sondern habe einen gewissen Ratschlag befolgt: sei so wie du jetzt bist, sieh nicht auf eine Zukunft, von der du nichts wissen kannst. Genieße es wie du bist. Das wird irgendwann wieder vorüber sein, dann kommt Neues, aber jetzt . . .


Das habe ich auch wirklich befolgt, ich sah immer ganz bewußt auf das, was ist. Ich habe Dinge getan, die andere Knaben nicht so mochten – eben das Singen, auch Tanzen, und ich hatte viel Freude am Allein-Sein, lief viel in Büschen und Wäldern umher und kletterte auf Bäume und sprang in Teiche und Flüsse. Ich trug Kleidung, wie ich sie mochte, oder gar keine, richtete mich nie nach dem, was üblich war oder was ich sollte. Dadurch war ich für meine Familie nicht leicht zu ertragen, lebte nicht nach ihren Regeln.

Das alles erzähle ich in den nächsten Tagen, die ich hier im Ashram lebe, dem Knaben, den Anita in den Armen hält. Auch ich ließ mich damals von anderen Menschen in den Armen halten und lag mit ihnen auf den sonnigen Wiesen meiner Heimat (bei uns zuhause war es nie so brüllend heiß wie hier) und tanzte mit ihnen, und wir streichelten einander.

Hier in diesem Ashram ist ganz viel Liebe, Liebe in diesem Volk ist etwas viel Größeres als bei uns, sie nennen es karuna, das ist das Gefühl und Verstehen für alle Wesen, ob Menschen oder Tiere oder Pflanzen, ob sie gerade leben oder mal waren oder mal kommen werden.

Und dann ist da ein Mädchen, das legte sich auch in Anita´s Arme, und ich sah, sie ist so liebevoll und lebensfroh wie der Knabe. Daneben sitze ich nun und streichele über die drei und lasse mich schließlich auch streicheln – und Anita nimmt uns alle und geht mit uns zu Krishna´s Altar, und wir singen für Krishna Dankeslieder. Da ist ein großes Bild des Gottes, wie er eine Flöte spielt, und er sieht aus wie der Knabe, der mit uns kommt, sieht aus wie ein wunderschönes Mädchen, das von allen bewundert ist. „Krishna ist in allen Wesen,“ sagt Anita, „und nun siehst den Gott hier so, wie er für dich am schönsten ist. Und er ist auch ein großer Lehrer der Lebenskunst.“

Das Mädchen schlängelt sich um Anita, „bin ich auch so schön wie unser Krishna?“ „Ja,“ sagt eine andere Frau zu ihr, „ich liebe doch den Krishna wie er gerade für mich ist, wie ein reizendes junges Mädchen. Darum sehen alle Knaben doch wie Mädchen aus, damit wir unseren Gott so lieben wie er ist, wie es für uns schön ist.“ - Doch für die älteren Damen stellt Krishna sich als kleines Kind - „Balakrishna“ - dar:



Im Altar hängt ein weiteres Gemälde vom jungen Krishna wie er die Flöte spielt. Sieht er nicht so reizend wie ein Mädchen aus? „Ja, das ist es,“ sagt die Frau, „du ähnelst ihm so sehr, daß dich alle lieben.“ Das Mädchen wird ganz rot, und ein paar Tränen fließen auf ihr gelbes Kleid. Der Knabe umarmt sie und küsst ihren Mund und küsst liebend die Tränen von ihren Wangen, alle freuen sich über dieses schöne Bild der Liebe.


Knabe, den Krishna darstellend


Der Knabe aber bekommt die Aufgabe, den jungen Flöte spielenden Krishna darzustellen, nach diesem Bild. Ich will mal versuchen, seine Darstellung zu zeichnen.


Ein altes Lied

Hari Krishna
Hari Krishna
Hari Krishna

Laß mich
Dein demütiger
und ergebener
Diener sein.
Leite mich an
und führe mich,
daß ich Dein
liebender
Bhakta werde
- in Demut und
in bedingungsloser
Gefolgschaft

Hari Krishna
Hari Ram
Hari Krishna


In der Nische des Altars liegen ein paar gemalte Blätter:
Die schöne Radha

(will ich noch malen)





Krishna mit den Gopis


(will ich noch malen)

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Diese Geschichte spielt in der nord-indischen Stadt Vrindāvana und ist erfunden. Ich war mal dort und habe das Milieu, die Stimmung so erlebt. Krishna, der vierte Avatar (göttliche Incarnation) der Gottheit Vishnu, lebte in dieser Gegend. Seht bei Google für mehr Informationen. Chaitanya war ein Bote Krishna´s im späten Mittelalter. Aus seiner Tradition entstand vor ein paar Jahrzehnten die Bewegung International Society for Krishna Consciousness (ISKCON). Mehr Informationen bei Wikipedia. Aus Freude an dieser Bewegung und der religiösen Betonung der Liebe habe ich die Geschichte erfunden. Doch am Anfang drücke ich meine Sorgen um die von uns Menschen erzeugte Veränderung der Natur aus.

Meine Bleistift-Zeichnungen sind nach gefundenen Fotos. Danke den Fotografen.